Logo: (links) Weißes Männchen mit Blindenstock auf dem blauen Schild mit dem weißen Aufdruck „Taubblind“; (rechts oben Punktschrift; unten Normalschrift) SHG Taubblind AKTIV Köln/Essen Das vibrierende Signal vor der Treppe von Georg Cloerkes Bild 01: Gruppe vor dem ganzen Schloss Augustusburg an der Südseite Schritt um Schritt … Drehspitze rechts und links hin- und herschwingen … an die Kante einer langen Stufe klopfen … Tick, Tick, Tick … eine starke Vibration im Gürtel verfolgen … um ein Ziel suchen … mit Spannung und guter Taktik!!! Heutzutage können sich taubblinde und hörsehbehinderte Menschen selbständig orientieren? Sich besser zurechtfinden, mit dem praktischen Navigationsgürtel, der sie zielgenau zur Haustür führen kann. Georg Cloerkes beschäftigt sich täglich mit seinem hilfreichen Navigationsgürtel und macht Fortschritte … Er zeigt der SHG Taubblind AKTIV Köln/Essen, wie man sich im Schlosspark orientiert … Bild 02: Georg pendelt am Kanal Im Alltag wandere ich alleine an einem herbstlichen Sonntagmorgen auf einem Feldweg am Kanal entlang. Es geht um meine selbständige Orientierung mit einem praktischen Navigationsgürtel. Vor der Kreuzung „Brauweiler Straße/An der Ronne“ mache ich eine kurze Verschnaufpause und trage die gelbe Sicherheitsweste mit dem Aufdruck „Taubblind“. Die Hauptstraße „Brauweiler Straße“ verläuft von Nordwesten nach Südosten; die beiden Nebenstraßen „An der Ronne“ von Osten nach Westen. Ich gehe weiter vorwärts in nordwestlicher Richtung nach Brauweiler. Die Nebenstraße auf der linken Seite „An der Ronne“ führt geradeaus zu einer Kanalbrücke im Westen, die mein späteres Ziel sein soll. Jetzt gehe ich links an einer Absperrung für Autos an einer Nebenstraße vorbei und schlage gerade auf einen Radweg am Anfang ein. Der Radweg führt links an der Hauptstraße „Brauweiler Straße“ entlang. Hier habe ich die Stadtgrenze überquert und wandere jetzt außerhalb der Millionenstadt Köln. Darauf mache ich eine schmalere Pendeltechnik als sonst, um zu vermeiden, dass Passanten über meinen Langstock stolpern, wenn sie nahe an mir vorbeijoggen. Ich gehe scharf an der linken Kante des Radwegs entlang, indem ich mit meinem linken, festen Wanderschuh teilweise einen Grasrand spüre. Dadurch halte ich Platz frei, um Passanten durchzulassen. Ich pendele dabei zwischen links und Körpermitte her und hin. So können Passanten, Rad-, Roller- und Mofafahrer an mir vorbei gehen bzw. fahren. Sonst muss man anhalten, wenn ein Hindernis umständlich ist. Ich marschiere ruhig und konzentriert vorwärts, wobei ich die Vibrationseinheit vorne im Navigationsgürtel spüre. Damit fühle ich mich sicher, ich kann die richtige Richtung halten. Ich bin mit der Navigationsfunktion vertraut. Nach ca. 150 m stoße ich mit der Rollspitze meines Langstocks gegen eine Kante des mir bekannten Bürgersteiges. Dann betrete ich einen kleinen, sicheren Bürgersteig auf dem Weg zum Ziel, die Kanalbrücke. Da signalisiert die APP feelSpace das gespeicherte Ziel, indem es je zweimal an den beiden Seiten des Körpers vibriert. Ich gehe ein Stück weiter, bis ich am Ziel vor einem Geländer der Kanalbrücke stehe. Anschließend lese ich auf meiner mobilen Braillezeile: „Sie haben Ihr Ziel erreicht! Sie sind bei „Lövenich Kanalbrücke links Brauweiler Straße“ angekommen. OK“. Hiermit bestätige ich die OK-Taste und bereite dann ein nächstes Ziel vor, indem ich einen gespeicherten Favoriten einer Strecke „Lövenich Kanalbrücke West, 800 m“ auswähle. Und ich studiere die Wegbeschreibung dieser Strecke. Ich blicke schemenhaft auf den Kanal nach Süden, wo das Wasser hingegen in nördlicher Richtung fließt. Dieser Kanal liegt zwischen dem linken Stadtteil Lövenich und dem rechten Feld. Hier gibt es die drei Wegmöglichkeiten zur nächsten Kanalbrücke: 1. auf demselben Radweg zur letzten Kreuzung zurückkehren (empfohlen von der APP feelSpace), 2. links einen abenteuerlichen Pfad am Kanal oder 3. rechts einen Feldweg am Kanal zu wählen. Dann starte ich den Favoriten und es pulsiert an der linken Seite. Da soll ich auf denselben Radweg einschlagen. Stattdessen wähle ich den mir bekannten Feldweg. Ich drehe mich vor dem Geländer der Brücke nach rechts um und gehe weiter vorwärts. Am Ende des Bürgersteiges auf der Brücke stehe ich einen Moment vor dem linken Schotterweg zum Feld und schaue vorsichtig rechts und links, ob jemand an mir vorbei geht oder fährt. Anschließend gebe ich die Hand nach vorne und halte dabei diagonal meinen Langstock vor, womit seine Rollspitze an einer Kante des Bürgersteiges liegt. Weil ich keinen beweglichen Hell-Dunkel Kontrast erkannt habe, gehe ich los und biege ich links in den Feldweg ein, der etwa 650 m lang zur nächsten Kanalbrücke führt. Dieser Weg ist für die Landwirtschaft erlaubt. Heute ist Sonntag. Ich erinnere mich daran, was mir etwas passierte. Im Taunus fuhr eines Tages ein großer Traktor mit einem mit Strohbällen beladenen Anhänger auf einem asphaltierten Feldweg, wo ich alleine meinen Langstock pendelte. Ein Bauer musste Schrittgeschwindigkeit fahren, weil er an mir, als Hindernis, nicht vorbeifahren konnte. Nach einer Weile hielt ich an und drehte mich prüfend um, um mal nach einem Fahrzeug zu schauen. Ich konnte diesen Hell-Dunkel Kontrast erkennen und ging sofort zur Seite, wobei ich über einen Grasrand und dann eine Böschung feldeinwärts gehen musste. Auf einem längst gemähten Ackerland winkte ich lächelnd dem Bauer zu, um ihn durchzulassen. Bild 03 links: Rollspitze verfängt sich Bild 04 rechts: mit 2 Fingern hochziehen Weiter auf meinem Weg zum nächsten Ziel: Auf einem langen Feldweg pendele ich links an einer hohen Hecke entlang, die vor Sturz in einen gefährlichen Kanal schützt. Da spüre ich die Vibration an der linken Seite und ignoriere die empfohlene Route. Ich sollte zurückkehren, um mich zu dem empfohlenen Radweg zu begeben. Die APP feelSpace wird wenig später jedoch eine automatische Routenänderung signalisieren. Ich wandere weiter. Ich gehe scharf auf der linken Reifenspur an der Hecke entlang. Dabei halte ich die rechte Reifenspur möglichst fern, um genug Platz für Passanten zu lassen. Die Rollspitze meines Langstocks verfängt sich stellenweise in hohem Gras an der Hecke. Ich ziehe sie dann mit dem lockeren Zeig- und Mittelfinger schnell hoch, um die Rollspitze vom Gras zu befreien. Dabei halte ich möglichst meine Schrittgeschwindigkeit, ohne zu bremsen. Ich erinnere mich, dass ich Im Jahr 1999 damals in Hannover eine angemessene Pendeltechnik mit drei Fingern erlernte. Seitdem nutze ich stets Daumen, Daumenwurzel, Zeig- und Mittelfinger, um meinen Langstock zu pendeln. Ich halte den Oberarm seitlich am Oberkörper und den Unterarm schräg vor mir. Dabei bewege ich die Hand in der Körpermitte vor mir hin und her, um den Langstock zu pendeln. Mein Arm darf sich nicht bewegen, weil ich eine gleichmäßige Pendelbreite in Schulterbreite halten muss. Ich lege den Griff des Langstocks auf einen leicht gekümmerten Mittelfinger, der als eine Gabel dient. Darauf dreht sich der Griff hin und her, wobei ich abwechselnd mit dem Zeigfinger oder Daumenwurzel drücke und mit dem leicht gekümmerten Daumen oder Mittelfinger ziehe. Ich steuere dabei das Pendeln mit dem Zeigfinger als Lenker, womit ich ihn seitlich am Griff des Langstocks lege. Ich drücke und ziehe den Langstock bei jedem kurzen Handschlag mit den drei Fingern, um die schwere Drehspitze des Langstocks selbst hin und her rollen zu lassen. Das ist sehr locker, ohne den Griff des Langstocks dauerhaft festzuhalten. Ich bin geübt und geschickt. Bild 05 links: mit Daumenwurzel drücken Bild 06 rechts: mit Zeigfinger drücken Plötzlich vibriert es wieder zweimal an den beiden Seiten. Die Vibrationseinheit springt von der linken Seite nach hinten auf meinem Rücken im Gürtel. Ich halte abrupt an, um mich nach dem Signal zu erkundigen. Auf der mobilen Braillezeile lese ich: „Sie haben sich von der ursprünglichen Route zu sehr entfernt. Es wurde eine neue Route berechnet. OK“. Ich bestätige wieder die OK-Taste und wandere weiter vorwärts. Ich beachte aufmerksam die Bodenbeschaffenheit auf der langen Reifenspur. Wenn der Boden mit Schottersteinen bedeckt und der Untergrund hart ist, spüre ich eine starke Vibration am Griff des Langstocks. Als ich eine schwache Vibration spüre, halte ich abrupt an, ich stehe vor einer tiefen Pfütze. Ich spüre auch Unebenheit wie z.B. ein Schlagloch. Ich kann gut spüren, wenn diese Pfütze viel Wasser hat, indem sich die Rollspitze des Langstocks tief im Wasser langsamer als sonst bewegt. Dann balanciere ich links auf einem schmalen Gradrand um diese Pfütze, wobei ich die Ranken der Hecke streife. Oder ich gehe seitlich zwischen einer langgezogenen Pfütze und der Hecke weiter schwinge die Rollspitze des Langstocks tief im Wasser hin und her. An jeder Stelle halte ich die rechte Reifenspur fern, damit Passanten genug Platz haben. Ich tänzele um jede Pfütze herum. Das macht mir viel Spaß. Die nächste Pfütze muss ich leider rechts umgehen, ich drehe mich um 90 Grad und prüfe, ob ich rechts und links Bewegung erkennen kann, ob ein Passant oder ein Fahrzeug sich nähert. Ich kann nichts erkennen und gehe vorbei. Ich mache hier eine kurze Verschnaufpause vor einem großen Feld. Ich genieße Schönheit der Natur und Einsamkeit. Ich erinnere mich mit Freude daran, dass ich in meiner Jugend oft meine Ferien auf einem Bauernhof direkt an der niederländischen Grenze verbrachte. Mein Vetter Gregor und ich zogen mit Vergnügen Stiefel und Regenjacke an, wir sollten bei heftigen Regen Kühe von einer Koppel hereinholen. Na ja, es gab nicht nur überall Pfützen, sondern auch Schlamm, Erdhaufen von Maulwürfen und natürlich viel Mist. Wir traten achtlos hin. Etwa 20 Kühe bugsierten wir in ihren Stall, ich ging direkt hinter einer Kuh her. Plötzlich schiss diese Kuh einen frischen Mist zu Boden, genau vor meinen Füßen. Ich trat voll hinein. Gregor lachte, um mich zu ärgern. Ich grinste ihn an. Es war eine schöne Erinnerung. Ich lächele. Allmählich springt die Vibrationseinheit im Gürtel von hinten nach vorne. Die APP feelSpace signalisiert eine neue Routenänderung. Nun erkundige ich mich, wie weit entfernt das Ziel ist. Ich lese auf der mobilen Braillezeile: „In 150 Meter, links abbiegen auf „An der Ronne““. Damit kann ich wissen, dass das Zeil nah ist. Ich wandere glücklich weiter. Als das Ziel etwa 15 Meter entfernt ist, springt die Vibrationseinheit von vorne nach links im Gürtel. Es pulsiert. Ich kann unmöglich an diesem Ziel vorbeigehen, weil ich einen so praktischen Navigationsgürtel trage. Endlich signalisiert die APP feelSpace das Ziel „Lövenich Kanalbrücke West“. Ich halte auf diesem Feldweg links neben der Kanalbrücke an und finde die mir bekannte Schränke, die sich vor der Kanalbrücke befindet. Ich biege links darauf ein und bin am Ziel angekommen. Ohne Navigationsgürtel kann es leicht passieren, dass ich an dieser Stelle an der Kanalbrücke vorbeiwandere. Jemand könnte diese Schränke auch öffnen, um ein Fahrzeug durchzulassen. Dann könnte ich sie nicht finden. Der Navigationsgürtel gibt mir Sicherheit. Bild 07: Der naviGürtel® mit dem iPhone und der mobilen Braillezeile Bild 08: Georg, Dietmar, Inna, Gerd S., Ralf u. Gerd M. vor den Wendeltreppen Es ist ein wunderschöner Morgen in einem stillen Schlosspark voller Nebel. Bunte Blätter fallen von den alten Bäumen nach und nach zu Boden. Langsam löst sich der Nebel auf und die Herbstsonne erscheint in Glanz und Gold. Vor einem schönen Brühler Wirtshaus am Schloss steht eine Gruppe der Selbsthilfegruppe Taubblind AKTIV Köln/Essen in der Sonne. Das 2. O&M-Training beginnt am 27. Oktober 2021 pünktlich um 14 Uhr am berühmten, barocken Schloss Augustusburg an der Ostseite der Stadt Brühl. 6 taubblinde und hörsehbehinderte Teilnehmer und ihre 7 Assistenten begrüßen sich mit Freude. 2 Teilnehmer entschuldigten sich. Ich zeige der ganzen Gruppe eine gepflasterte Zufahrtsstraße zum Schloss. Diese Strecke verbindet den Bahnhof Brühl im Osten mit dem Schloss im Westen. Das Bahnhofsgebäude wurde am 15. Februar 1844 eröffnet. In diesem Gebäude befindet sich das Brühler Wirtshaus am Schloss mit Sicht auf das prunkvolle Schloss. Ich weise die Gruppe darauf hin, dass diese Strecke ein zentraler Punkt des ganzen Schlossparks ist. Wenn TBL holprige Pflastersteine ertasten, wissen sie, dass sie auf dieser Zufahrtsstraße sind. Im ganzen Park gibt es sonst keine Pflastersteine. Es vibriert genau an seiner rechten Körperseite, als sich der einzige volltaubblinde Teilnehmer, Gerd M., hinten an die untere Stufe der Treppe stellt. Seine Füße stehen direkt an der Kante dieser Stufe. Diese Treppe führt zum Eingang des Bahnhofs. Er trägt meinen Navigationsgürtel. Damit er passt, hat ein türkischer Schneider ein Verlängerungsband mit Klettverschluss eingenäht. So kann ich den Gürtel auch umfangreicheren Personen ausleihen. Allerdings weise ich darauf hin, dass der Kompass nicht ganz so genau funktioniert, wenn man eine solche Verlängerung nutzt. Da erkläre ich Gerd M. lormend und taktil gebärdend, wie er sich nach welcher Himmelsrichtung orientiert. Gerd M. erkennt mit großem Interesse, dass der Kompass im Gürtel funktioniert. Die Vibrationseinheit im Gürtel zeigt stetig die Nordrichtung an. Ich informiere ihn über jede Himmelsrichtung: Hauptstraße im Norden, Wirtshaus im Osten, Jagdschloss Falkenlust im Südosten, Parkplatz im Süden, Schlosspark im Südwesten und Schloss Augustusburg im Westen. Da steht er und zeigt zum Schloss. Seine Reaktion ist richtig. Er baut eine räumliche Vorstellungskraft auf. Die Kompassfunktion ist sehr hilfreich und praktisch. Bild 09: Vorbereitung zum Start Das zweite O&M-Training startet zwischen einem alten Wassergraben des Schlosses und einem großen Parkplatz. Alle Teilnehmer tragen bereits eine gelbe Sicherheitsweste mit dem Aufdruck „Taubblind“ und eine gelbe Kappe mit drei schwarzen Punkten. Wir, alle 6 Usher-Gehörlose, stehen auf einem Schotterweg zwischen beiden Hecken. Ich stelle zufrieden fest, dass alle ihre unverzichtbaren Langstöcke mit 3 Fingern pendeln können. Eines Tages habe ich einem von ihnen eine korrekte Pendeltechnik mit 3 Fingern beigebracht. Ich erkläre der Gruppe, dass wir dem Vorbild von Gerd M. folgen sollen. Wir üben als Volltaubblinde wie Gerd M. und konzentrieren uns ganz auf die wichtige Rollspitze. Wir Usher-Gehörlose haben eine starke Blendungsempfindlichkeit und Nachtblindheit, die Rollspitze ist auch für uns wichtig. Wir lernen verschiedene Leitlinien und Bodenbeschaffenheiten zu spüren. Der große Schlosspark ist ein idealer Trainingsplatz für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen, weil kein Auto darauf fahren darf. Allerdings kann es passieren, dass dennoch ein Fahrzeug eines Gärtners langsam durch den Park fährt. Der Fahrer wird sicher vorsichtig fahren, sobald er die Sicherheitswesten, die Kappen und die weißen Langstöcke bemerkt. Gerd M. steht seitlich an der linken Hecke, die an einem Drahtzaun des Wassergrabens steht. Gerd M. tastet Blätter der Hecke ab und spürt unten einen schmalen Grasrand mit der Rollspitze. Ich erkläre ihm geduldig. Er soll diesen Grasrand als Leitlinie verfolgen. Er merkt sich die Stelle im Navigationsgürtel, an der es leicht vorne an der rechten Körperseite vibriert. Er soll entsprechend in westnordwestlicher Richtung losgehen. Dann schildere ich jedem Teilnehmer, indem ich abwechselnd Lormen, Deutsche Gebärdensprache (DGS), taktiles Gebärden und Fingeralphabet mit den 5 unterschiedlichen Usher-Gehörlosen kommuniziere. Wir alle können nicht hören. Ich informiere alle über den bogenförmigen Verlauf des Wassergrabens und erkläre dabei, dass TBL eine Richtungsänderung bemerken können, wenn die Vibrationseinheit diese festgestellte Stelle im Gürtel verlässt und zu einer Seite wandert. Anschließend bilden alle eine Reihe. Es geht los. Wir alle pendeln links die ganze Hecke entlang. Dieser Schotterweg bleibt trocken und hat viel Schlaglöcher. Mancher Teilnehmer bittet seinen Assistenten um Unterstützung, weil er Gleichgewicht verlieren kann, wenn er in ein tiefes Schlagloch tritt. Ich hingegen bin geübt und kann ganz allein einen beschwerlichen Weg bewältigen. Bild 10: Gruppe pendelt die Hecke hinter dem Wassergraben entlang Bild 11: Gruppe geht zum Schlosstor Am Ende dieses Weges halte ich Gerd M. auf, sobald ich die Kante der gepflasterten Zufahrtsstraße mit der Rollspitze meines Langstocks gefunden habe. Die anderen halten ebenfalls hinter Gerd M. und warten geduldig ab. Ich zeige Gerd M. diese Kante der Pflastersteine. Er kann eine Bodenveränderung gut spüren und über die holprigen Pflastersteine reagieren. Er stellt dabei bewundernd fest, dass es nicht links stark schräg vorne im Gürtel, sondern genau vorne vibriert. Ich verkünde allen einen Richtungswechsel. Da biegen wir links auf die Zufahrtsstraße ab und folgen ihr in westlicher Richtung. Das große Schlosstor steht mitten auf der Zufahrtsstraße zwischen dem schräg verlaufenden, hohen Gitterzaun. Der rechte Torflügel ist halb geöffnet. Schemenhaft kann ich dieses Tor nun erkennen. Gerd M. spürt die Vibration im Gürtel mit der Kompassfunktion. Er geht um den geschlossenen, linken Torflügel herum. Dabei tastet er die einzelnen Eisenstangen des alten Schlosstors ab. Dann geht er weiter an der Brüstung einer Brücke entlang. Da stehe ich bereits an der Brüstung und führe seine Hand zum Geländer, die er mit Freude abtastet. Die Brücke muss wohl zwei Geländer haben. Deshalb frage ich ihn, welches Geländer er gefunden hat: Rechts oder Links? Gerd M. stellt sich genau vor der Brüstung und spürt prüfend, dass es auf seinem Rücken vibriert. Er überlegt einen Moment und antwortet, dass er an der südlichen bzw. linken Brüstung steht. Ich klopfe auf seine Schulter und gratuliere ihm zu seiner richtigen Reaktion. Dann schildere ich den anderen 4 Teilnehmern, die das Tor und die Brücke in günstigem Licht noch gut erkennen können. Wenn wir allerdings entweder in grellem Gegenlicht oder in der Dunkelheit geraten, können wir uns ohne einen solchen Kompass auch nicht orientieren. Deshalb sollen wir wie Gerd M. nicht nur sehen, sondern auch abtasten. Bild 12: Georg und Gerd M. vor der Brüstung der Brücke Gerd M. stellt sich wie ein Wachsoldat hinter einer kleinen Tür des Wachhäuschens und lächelt stolz. Da stehen zwei Wachhäuschen und zwei große Skulpturen „Jägerin und Jäger“ auf jedem hohen Sockel symmetrisch auf der Zufahrtsstraße, die zum Schloss Augustusburg im Westen führt. Wir wollen uns fotografieren lassen. Eine Assistentin als Fotografin bittet uns zur anderen Seite, weil sie im Gegenlicht nicht fotografieren kann. Deshalb muss Gerd M. das Wachhäuschen wechseln, wobei seine Assistentin ihn zur gegenüberliegenden Seite führt. Dabei ist er ein bisschen verwirrt, weil die Vibrationseinheit im Gürtel hin- und herschwankt. Jedoch hilft der Navigationsgürtel ihm gut. Sobald er sich wieder hinter die Tür des gegenüberstehenden Wachhäuschens gestellt hat, kann er in Ruhe feststellen, dass er die Himmelsrichtung gewechselt hat. Er ist entsprechend vom südlichen Wachhäuschen zum nördlichen gegangen. Er ist nicht mehr verwirrt und zufrieden. Er strahlt in die Sonne im Süden. Knips! Anschließend stellen wir fünf uns hinten am von Osten nach Westen verlaufenden Straßenrand. Da stehen wir alle nebeneinander und richten unsere Langstöcke nach Süden auf, als wie trügen wir als Wachsoldaten schwere Flinte. Knips! Feuer? Knips! Wir lachen … Bild 13: 6 Wachsoldaten feuern Ab jetzt wird der Navigationsgürtel gewechselt. Nun trägt Ralf B. ihn mit Spannung und steht mitten auf der Zufahrtsstraße. Er kann schemenhaft das Schloss erkennen und spürt dabei die Vibrationseinheit im Gürtel. Da stellt er verwirrt fest, dass es nicht vorne, sondern genau an der rechten Körperseite vibriert. Das liegt daran, dass der Gürtel in der Kompassfunktion ist, nicht in der Navigationsfunktion. Ich gebärde der ganzen Gruppe DGS, während einige Assistenten ihren Teilnehmern meine Erklärung übersetzen. Einige Usher-Gehörlose können meine Gebärdensprache direkt erkennen und verstehen. Wenn TBL sich in ihrem Wohngebiet gut auskennen, dann ist die Kompassfunktion zu empfehlen. Hier z.B. im ganzen Schlosspark gehe ich ziellos spazieren. Ich kann mich jederzeit vergewissern, wo sich das Schloss befindet. Wie? Ich merke mir eine wichtige Linie, die genau vom Osten nach Westen verläuft. Auf dieser Linie befinden sich die Zufahrtsstraße, Schloss Augustusburg, das Oratorium (Betsaal) mit dem Orangerieflügel (Gewächshaus) und Schlosskirche St. Maria von den Engeln nebeneinander, die alle genau am südlichen Park grenzen. Wenn ich in irgendeiner Allee schlendere, dann suche ich eine Vibrationseinheit im Gürtel. Es vibriert z.B. links schräg hinten im Gürtel, d. h. ich gehe in südöstlicher Richtung zum Jagdschloss Falkenlust. Ich halte an und drehe mich nach links, bis die Vibrationseinheit genau am Bauchnabel bzw. vorne steht. Damit kann ich ohne Zweifel wissen, wo die Ost-West-Linie liegt. Wenn ich zum Ausgangspunkt „Zufahrtsstraße“ zurückkehrte, dann folge ich möglichst der nördlichen Himmelsrichtung zur Ost-West-Linie. Diese Kompassfunktion ist logisch. Nun frage ich Ralf B. mit Spannung, wo der Schlosspark liegt. Er zeigt zum Park links neben dem Schloss. Denn erkläre ich ihm zufrieden, dass er nicht die wandernde Vibration verfolgen soll, weil er nicht geradeaus mitten auf der Zufahrtsstraße gehen kann. Er soll nun den Straßenrand als Leitlinie nutzen. Aufgrund der Gleichgewichtsstörung und der Gesichtsfeldbeeinträchtigung kann ein Usher-Gehörloser nur schwer genau die Richtung halten. Deshalb ist eine Leitlinie wie ein Straßenrand sehr hilfreich. Ralf B. soll zum Park gehen. Deshalb geht er schräg nach links zum Straßenrand, indem die Vibration diese Stelle verlässt und möglichst bis hinten im Gürtel wandert. Sobald er mit der Rollspitze seines Langstocks gegen die Kante der Bordsteine gestoßen hat, die an einer Rasenfläche grenzt, stellt er sich seitlich an den Bordsteinen. Nun frage ich ihn noch einmal, wo es im Gürtel vibriert. Er zeigt mit dem Zeigefinger zur rechten Seite. Ich erkläre ihm damit, dass er genau eine vom Osten nach Westen verlaufende Straße bemerken kann. Man nennt sie auch die Ost-West-Richtung. Alle Teilnehmer stellen sich ebenfalls seitlich an den linken Straßenrand. Die Assistenten vibrieren mit der Hand so gleich an der rechten Körperseite ihrer Teilnehmer wie die Vibrationseinheit im Gürtel bei Ralf B. und erklären ihnen, dass diese Stelle der Vibrationseinheit immer bleiben soll, solange sie in westlicher Richtung zum Schloss pendeln. Wir, alle Usher-Gehörlosen, gehen scharf am linken Straßenrand entlang, ohne uns umzudrehen.  Bild 14: Georg erklärt Ralf über Richtungsänderung Nach einer Weile halte ich an und drehe mich um, um Ralf B. aufzuhalten. Ich erkläre der ganzen Gruppe, dass Ralf B. immer der gleichen Stelle der Vibrationseinheit im Gürtel folgt, solange er geradeaus geht. Wenn die Vibrationseinheit diese Stelle verlässt, merkt er, dass er die Richtung ändert. Wenn er z.B. eine große Mülltonne als Hindernis auf einem schmalen Bürgersteig umgehen muss, dann spürt er eine deutliche Bewegung der Vibrationseinheit im Gürtel. Sobald er sich wieder auf dem nächsten Bürgersteig begeben hat, findet er die festgestellte Stelle der Vibrationseinheit wieder. Dann hat er wieder die gleiche Richtung wie vorher. Wir alle marschieren weiter vorwärts. An einer Ecke der Rasenfläche halten wir alle wieder an. Ralf B. soll hier nach links abbiegen, um zum Park im Süden zu gelangen. Dann biegt er in den linken Weg ein, wobei die Vibrationseinheit von der rechten Seite nach hinten im Gürtel wandert. Er geht noch ein Stück weiter, um zu prüfen, ob sich eine neue Stelle der Vibrationseinheit im Gürtel nicht mehr bewegt. Damit stellt er fest, dass er die Richtung gewechselt hat, d. h. er geht nicht in westlicher Richtung, sondern in südlicher Richtung. Anschließend führe ich jeden Teilnehmer um die Ecke und schildere ihm ein Beispiel wie Ralf B. Alle bewundern, dass die Kompassfunktion eine solche Richtungsänderung sauber anzeigt. Bild 15: Gruppe pendeln auf der Zufahrtsstraße Im Jahre 1298 wurde die Wasserburg mit Wildpark fertiggestellt. Sie wurde Sitz des Amtmanns des kurkölnischen Amtes Brühl. Sie überdauerte bis 1689. Dann wurde sie von den Franzosen im Pfälzischen Erbfolgekrieg gesprengt. Der Kölner Erzbischof Clemens August von Bayern (1700-1761) aus der Dynastie der Wittelsbacher ließ an der Stelle der Ruinen das Schloss Augustusburg erbauen. Der Bau des barocken Schlosses begann 1725. Nun gibt es eine Aufgabe zu der interessanten Navigationsfunktion. Zwischen den nach Osten weisenden Schlossgebäuden steht die Gruppe am Ehrenhof vor einem Torhaus und alle erwarten mit Spannung, wie die Navigation hier starten soll. Ich rufe Gerd M. zu mir, um ihn zum Ertasten zu führen. Er und ich bücken uns nach einer Absperrungskette vor einem großen Fenster am östlichen Tor. Dann informiere ich die Gruppe gebärdend. Im Durchgang des Torhauses hielt damals der Kölner Kurfürst und Erzbischof Clemens August mit einer Kutsche an. Schließlich stieg er aus und ging die breite Empfangstreppe hinauf, die zum großen Saal im Obergeschoß führt. Im Durchgang können Touristen ein wunderbares Deckenfresko (Gemälde an der Decke) betrachten. Der Durchgang des Torhauses ist wegen des Schutzes vor Schäden durch Wetterwitterung für immer abgeschlossen. Es wurden zwei große Fenster in das östliche und westliche Tor eingebaut. Bild 16: Gruppe am Ehrenhof vor einem Tor an der Ostseite Inna S. und ich stehen vor der Gruppe am Ehrenhof und blicken auf die Zufahrtsstraße nach Osten. Sie trägt bereits meinen naviGürtel® und wartet mit Spannung auf einen Start bei der Navigationsfunktion, wobei ich die APP feelSpace auf der mobilen Braillezeile bediene. Die Braillezeile ist schräg links mit Ösen an einem speziellen Gürtel vor mir befestigt. Ich suche einen Favoriten in der Favoritenliste und wähle die Strecke „Schloss Augustusburg Sonnenterrasse Mitte, 50 m“ aus. Ich erkläre der Gruppe meine Erfahrungen, wie TBL ein gespeichertes Ziel erreichen kann. Dahinter steht eine sehr lange Sonnenterrasse an der Südseite des Schlosses. Da stehen die beiden Wendeltreppen in der Mitte an der ganzen Sonnenterrasse, die unmittelbar zum südlichen, großen Park führen. Der naviGürtel® kann TBL sicher zu dieser Mitte führen, wenn er sehr schemenhaft sieht oder von der Sonne geblendet, in der Dunkelheit oder volltaubblind ist. Dafür braucht er unbedingt eine genaue Leitlinie, indem er mit der Rollspitze seines Langstocks an jede Mauer des Gebäudes und eine Kante der Stufe der Sonnenterrasse entlangpendeln kann. Inna S. hingegen kann in günstigem Licht ein wenig erkennen, ohne eine solche Leitlinie zu spüren. Nun starte ich den Favoriten. Inna S. spürt eine starke Vibration im Gürtel und fragt mich verwirrt, warum es vorne und rechts vibriert. Ich erkläre ihr geduldig, dass diese Vibrationen nicht gleich sind: Es sind ein Vibrieren und ein Pulsieren. Ich frage sie daher, wo es pulsiert. Inna S. zeigt mit dem Zeigefinger an der rechten Seite. Dann erkläre ich ihr zufrieden, dass das Pulsieren auf eine Richtungsänderung hinweist. Also soll Inna S. geradeaus ein Stück in östlicher Richtung zwischen den beiden Vordergebäuden gehen, indem sie der Vibration vorne im Gürtel folgt. Und sie soll etwas später nach rechts um die Ecke des südlichen Vordergebäudes abbiegen. Ich rate ihr, hier nach rechts zu gehen, um nahe an der Mauer entlangzugehen. Sie geht los. Die Gruppe und ich folgen Inna S., die allein und selbständig um das südliche Vordergebäude herum geht. Sie kennt nicht diese Route zum Ziel und ist nicht über meine Wegbeschreibung informiert. Deshalb soll sie einfach der Vibration im Gürtel folgen. Ihr Assistent geht neben ihr, führt sie aber nicht. Sie kann gut erkennen, wie das Gebäude aussieht. Vor der nächsten Ecke zur Sonnenterrasse signalisiert die APP feelSpace eine Richtungsänderung, indem die Vibrationseinheit vom Vibrieren vorne nach rechts springt und pulsiert. Inna S. versteht dies sofort. Sie biegt nach rechts ab. Sie weiß nicht, wohin sie gehen soll. Plötzlich signalisiert die Vibration je zweimal an den beiden Seiten. Inna S. hält abrupt an und dreht sich um, mich verdutzt zu fragen. Ich gratuliere ihr glücklich zum Erfolg und erkläre ihr dabei, dass sie das Ziel erreicht hat. Nun frage ich sie mit Spannung, welches Ziel sie erreicht hat. Sie schaut mal um und antwortet, dass sie die beiden Wendeltreppen gefunden hat. Gut gemacht! Allerdings erkläre ich der Gruppe, wie Gerd M. wegen seiner Vollblindheit reagieren würde. Deshalb zeige ich Inna S., wie ich als Volltaubblinder einen beliebigen Standort als Zielpunkt abspeichern kann. Dies hatte ich bei meiner Erkundungsfahrt getan und dann zu diesem Zielpunkt navigiert. Wir gehen nach rechts und steigen ein paar Stufen hinauf, um zur Wand an der Südseite des großen Schlosses zu gelangen. Ich taste jede Struktur der Wand und der Fenstertüren usw. ab. Dabei erkläre ich Inna S., dass ich unmittelbar den Zielpunkt "Nut" finden muss. Da finde ich eine einzige Vertiefung (eine Nut genannt) in der Wand zwischen den Fenstertüren unterhalb eines mittigen Balkons. Schließlich verkündige ich Inna S. lächelnd, dass ich hier das Ziel gefunden habe. Ein solches Ertasten erfüllt mich mit Schönheit und Kunst der Architektur, weil ich schemenhaft diese Gegenstände schlecht erkenne. Ich befinde mich hier in der Mitte auf der ganzen Sonnenterrasse unmittelbar vor den rechten und linken Wendeltreppen. Die Navigation ist beendet. Bild 17: Georg und Inna am Ziel „Sonnenterrasse Mitte“ Nun nehme ich Inna S. meinen naviGürtel® ab und lege ihn selbst an. Ich stehe hinter der Wand und blicke auf einen sonnenbeschienenen Park mit Fontänen. Ich danke der Gruppe für gute Arbeit und Geduld. Ich erkläre ihr, wie ich allein hinuntersteige. Ich schalte die Kompassfunktion ein. Da vibriert es auf meinem Rücken, d. h. ich stehe in südlicher Himmelsrichtung. Anschließend drücke ich zweimal die Kompasstaste, um die Vibrationseinheit an der vorderen Stelle im Gürtel umzustellen. Ich vergewissere mich, dass es eigentlich pulsiert und nicht um die Nordrichtung, sondern um eine nach Süden eingestellte Himmelsrichtung geht. Da soll ich geradeaus nach Süden gehen, ohne schiefzugehen. Schließlich gehe ich ein paar Stufe hinab und gelange zu einem vorderen, barocken Geländer zwischen den Wendeltreppen. Dann drehe ich mich nach rechts um, die rechte Wendetreppe hinabzusteigen. Unten angekommen, stellen wir alle auf die letzte Stufe, um ein Gruppenbild zu machen. Knips,Knips und Knips … Nach einer etwa zweistündigen O&M-Training verabschieden wir uns fröhlich voneinander. Die eine Gruppe geht Kaffeetrinken im Wirtshaus. Ich gehe mit der anderen Gruppe durch den Park spazieren. Es ist ein erlebnisreicher Trainingstag der Selbsthilfegruppe Taubblind AKTIV Köln/Essen im Schlosspark. Die herbstliche Dämmerung beginnt gleich … Bild 18: Schloss Augustusburg im Spiegelbild am Brunnen im Schosspark ENDE